Entwertungsexzess
Antje Joel stürzt davon und lässt ihre Kinder zurück. Sie verliebt sich wieder, um dann auch in ihrer zweiten Ehe, nach einem Vorlauf von zwölf Jahren, in dem schwerer nachweisbare Degradierungsformen das Verhältnis bestimmen, körperliche Gewalt zu erleben. Die Autorin beschreibt ihre Fassungslosigkeit angesichts von Entwertungsexzessen, deren patriarchale Basis auf einem so soliden Sockel ankert, dass Weltstars wie Tina Turner das Gleiche passieren kann wie ihr.
Antje Joel, „Prügel. Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt“, Rowohlt, 334 Seiten, 12,-
„Dass diese Frau … klug, schön, ein Weltstar … die es doch nun bestimmt nicht nötig hatte, sich derart reduzieren ließ.“
Sozialer Genickbruch per Hashtag
Nächte verbringt Joel „damit zu, (sich) Ike-Turner-Interviews anzusehen“. Ihre Analyse zeigt die Willfährigkeit der Moderator*innen, ihr vorauseilendes Verständnis für die „Dominanz“ eines Mannes, der damit hausieren geht, eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens nach Belieben zu züchtigen.
Zweifellos würde Ike Turner mit seinen abstoßenden Selbstgewissheiten heute einen Empörungssturm entfachen, dem er nicht gewachsen wäre. Der soziale Genickbruch per Hashtag war noch eine Technik der Zukunft als Old Ike sich im Einklang mit den herrschenden Kräften wähnte. Das konnte Trump 2016 nicht mehr glauben. Trotzdem bekannte er sich im Wahlkampf zu seiner Frauenverachtung mit den bekannten Folgen.
P. wie Picasso
Joel vergleicht ihren ersten Peiniger mit Picasso. Sie dekonstruiert die Idee „von der Frau als Katalysator des männlichen Genies“. Sie entlarvt den Musen & Märtyrerinnenmythos vom weiblichen Kunstopfer als kulturellem Hochgenuss. Sie charakterisiert Picasso als schlichten Hegemonialfürsten und ihren mit P. initialisierten ersten Ehemann als Kleinausgabe eines ebenso charismatisch wie rücksichtslos um sich greifenden Tyrannen.
Mitleid und Solidarität mit der Drangsalierten verbot sich. Als Vorsitzende des permanent tagenden Küchentischtribunal stellte Antjes Mutter die Dummheit der Geschlagenen fest.
„Dieses saublöde Weib bin jetzt ich.“
Joels Tyrann erscheint im Text als P. und wohnt „via Facebook … gleich um die Ecke“. Seine Repräsentanz in Joels Leben ergibt sich nicht zuletzt aus fulminanter Offenherzigkeit. P. hat nichts zu verbergen und sich nichts vorzuwerfen. Zumindest suggeriert das seine Performance in den Sozialen Medien.
Manchmal möchte Joel ihn auffliegen lassen. Doch dann fällt ihr wieder ein, dass P. so offensiv als Aufgeflogener agiert. Dass den meisten klar ist, was er an Skrupellosigkeit und kalter Finesse hinter den Masken eines Leutseligen verbirgt. Dass aber keiner die Absicht hat, um ihn eine Mauer zu bauen oder ihn wenigstens von seinem Grandiositätsgipfel herunter zu zerren.
„Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (..) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.“ (Victor Klemperer)
Nichts zeigt deutlicher das durchgehaltene Machtgefälle zwischen Joel und P. an und so auch die Wahrheit der vorstehenden Klemperer-Einsicht als der Satz, mit dem ein finales Ereignis in die Familienchronik einging. Erinnert sich die Autorin an „jenen letzten Abend im Oktober 1987“, dann in der temporären Abwehr oder Annahme folgender Floskel:
„Der Abend, an dem ich weggelaufen bin.“
Kombiniert man den Satz mit einem mütterlichen Fazit im Ornat des Fatums, lautet das vollständige Eingeständnis:
Der Abend, an dem dieses saublöde Weib, das ich bin, weglief.
Im Off der niederschmetternden Perspektive formiert sich P.s Facebook-Publikum zu einem Garantieensemble. Es garantiert den Fortbestand der Gewissheiten, mit denen einst Joels Mutter die Plage einer wiederholten Ruhestörung quittierte.