Entwertungsexzess
In „Prügel. Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt“ erklärt Antje Joel, wie häusliche Gewalt funktioniert. Wie beim Familienalkoholismus bedarf es Mitäter*innen, um sich - als Säufer genauso wie als Schläger - wenigstens in der Nähe einer gesellschaftsfähigen Position halten zu können. Nach meinen Besprechungen des anspruchsvollen Titels, der sich nicht einfach so rezeptionell weghusten lässt, schrieb mich die Autorin an. Rasch führte sie mich in das Albtraumland eines Begreifens, das wie ein böses Erwachen war. Joel zeigte mir, dass ich mich als Rezensent auf der Täterseite etabliert hatte. "Das machen alle", erklärte sie freundlich. Dieser Beitrag dokumentiert einen Prozess der Erkenntnis und seine Umwege.
Lieber Jamal Tuschick,
Vielen Dank für Ihre Beiträge zu meinem Buch “Prügel”. Wenn Sie mögen, lassen Sie uns gern unterhalten über das Leichentuch der Indifferenz, das die Täter und Taten heute wie damals (in jedem Sinne) deckt. Kommentierte doch ein ZEIT-Leser unter der Auflistung der allein 2018 in Deutschland durch Hand ihres Ex-/Partners ermordeten Frauen in etwa: “133 Frauen - denen gegenüber Millionen Frauen stehen, die in glücklichen Beziehungen leben! Sollen wir uns darüber aufregen oder diese 133 gar eine Mehrheit nennen? Wohl kaum.”
Und deutsche Richter befinden noch heute nur auf Totschlag, wenn die Ermordete etwa ihrem Partner zuvor mitgeteilt hat, dass sie ihn verlassen will: „Das hat ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.“
Es gibt so viele Täter in unserer Gesellschaft. Nicht alle schlagen mit Fäusten zu.
Liebe Frau Joel,
vielen Dank für Ihre Kontaktaufnahme. Möchten Sie sich direkt auf dem Blog äußern? Soll ich Ihnen Fragen stellen? Mir ist heute Morgen klar geworden, wie viel Empathie Sie für P. immer noch aufzubringen in der Lage sind. Wir hatten neulich eine Missbrauchsgeschichte von Ute Cohen - „Satans Spielfeld“ - im Blog-Gespräch. Da war das gleiche Phänomen zentral: Das Verständnis der Opfer für die Täter. Falls Sie sich dazu äußern möchten, lade ich Sie herzlich dazu ein.
Meine Mutter hatte auch einen Schläger zum (1.) Ehemann, über den sie nie schlecht geredet hat. Dessen Gewaltgeschichten kursierten in der Familie wie Mitteilungen aus dem Poesiealbum. Ich habe das bis heute nicht verstanden.
Lieber Jamal Tuschick,
danke für ihre Rückmeldung. Sie können mir gern Fragen stellen. Habe ja schon so viel dazu geschrieben.
Nein, Empathie für P. empfinde ich keine mehr. Auch keine Sympathie. Ich denke, das geht aus dem Kapitel hervor, in dem ich die so empathischen Mythen über gewalttätige Männer entmystifiziere.
Die rückblickenden, erzählerischen Passagen, die Ihnen womöglich den Eindruck immerwährender Empathie vermitteln, habe ich versucht, aus dem Blickwinkel meines 16 bis 23jährigen Selbst zu schreiben. Das war ein Kraftakt. Er hat sich offenbar gelohnt. Meine ganze Empathie gilt dieser unglaublich starken, jungen Frau. Die (nicht nur) von P. ganz klein gequatscht und geprügelt werden musste, damit er sich neben ihr „wie es ihm gebührte“ behaupten konnte.
Das hatte ich anfügen wollen, aber es vergessen: Es ist der Ausdruck dessen, was man „traumatische Bindung“ nennt. Das Opfer macht sich in seinem Bemühen zu überleben den Täter “zum Freund”. Es ist eine von fünf möglichen Reaktionen auf eine lebensbedrohliche Situation, im Englischen die “Five F” genannt:
(als die drei aktiven Reaktionen)
(als passive Reaktionen)
Wie wir reagieren, darüber entscheiden nicht wir, sondern die Amygdala in unserem Gehirn. Und zwar trifft sie diese Entscheidung innerhalb einer Dreitausendstel Sekunde, ihr Ziel dabei ist einzig das Überleben. Hat das Gehirn mit der gewählten Entscheidung Erfolg (wir haben überlebt), hält es an seiner Wahl fest, bzw. wird es in einer ähnlichen Situation immer wieder dieselbe Entscheidung treffen. Es hält auch noch an dieser Wahl fest, wenn dazu keine äußerliche, unmittelbare Veranlassung mehr besteht.
Das erklärt, warum Ihre Mutter weiter „nett“ über ihren Schläger spricht: Es hat ihr geholfen, zu überleben.
Eine dauerhafte traumatische Bindung kann, entgegen der landläufigen Meinung, sehr schnell eintreten: Innerhalb von nur drei Tagen.
Liebe Frau Joel,
vielen Dank. Das ist sehr hilfreich, um zu begreifen, was passiert. In diesem Schema erkennt sich jeder wieder. Ich habe diese Identifikation mit dem Aggressor, die Übernahme des Verachtungskatalogs einer miesen Person, mehr als einmal beobachtet und mich so verhalten wie der Mathelehrer* im Buch. Man konstruiert unbewusst ein Einvernehmen zwischen Opfer und Täter. Das Einvernehmen hält das Opfer da, wo es sich leidend um Stabilität bemüht. Mit der Annahme eines weitschweifend zusammengedachten Einvernehmens drückt man es beiläufig in das Gewaltverhältnis. Meine Konstruktion eben war: Die minderjährige A. agiert in dem Missbrauchsverhältnis mit P. einen geistigen Missbrauch aus, der vorher, wenn er nicht delinquent stattgefunden hat, dann doch nicht eindeutig vermieden wurde. Mit solchen Arabesken dreht man sich automatisch aus der Verantwortung. Die will man noch nicht mal bei einem Cold Case so wie in einer gleichsam postumen Darstellung.
Das Gehirn ist mit den Tätern.
*Die noch minderjährige A. zieht zunächst zu P., der im Haus eines Lehrers wohnt. Der Herr im Haus will bald nicht länger Zeuge der Gewalt gegen A. werden. Er fordert das Paar zum Auszug auf, anstatt P. unter Druck zu setzen.
Lieber Jamal Tuschick,
so ist das: Wir platzieren die Verantwortung auf tausendundeine Art bei den Opfern. Und dann wundern und fragen wir uns (und die Frauen), was mit den Frauen „nicht stimmt“, dass sie die Schuld bei sich suchen. Na: Darum! Es war nicht nur P., der mir erklärt hat, wie und warum ich an seiner Misshandlung selbst schuld war. Er hatte (auch) darin zahllose Verbündete.
Seit Erscheinen des Buches habe ich reichlich Gelegenheit zu studieren, wie dieses Muster weiter funktioniert. Der Täter sagt: „Du bist so klein und schwach und scheiße, darum darf ich das mit dir machen!“ Zeitgleich und auch noch wenn die Frau längst gegangen ist, sagt die Gesellschaft: „Du bist/warst so klein und schwach und scheiße, darum hast du das mit dir machen lassen!“
Noch heute, 30 Jahre später, lautet die erste Frage, bzw. der erste Vorwurf an mich: „Warum bist du nicht gegangen!“ Na: Ich bin doch gegangen. Ich bin hier. Nur: Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich mal eine Zeitlang NICHT gegangen bin. DAS ist es, was mich ausmachen soll.
Das Stigma haftet an den Opfern. Der Täter bleibt frei.