Pressetext
Die Erschütterung des Archetyps
In den letzten sechs Jahrzehnten haben Künstler*innen konsequent versucht, die engen Genderdefinitionen zu destabilisieren, die unsere sozialen Strukturen bestimmen, und somit Identität, Gender und Sexualität neu zu denken. Die Erschütterung des Archetyps untersucht die Darstellung konventioneller und bisweilen klischeehafter männlicher Subjekte wie Soldaten, Cowboys, Athleten, Stierkämpfer, Bodybuilder und Ringkämpfer. Indem sie das Bild traditioneller Männlichkeit – lose definiert als eine idealisierte, dominierende heterosexuelle Männlichkeit – hinterfragen, fordern die hier präsentierten Künstler*innen unsere Wahrnehmung dieser hypermaskulinen Stereotype heraus.
Der röhrende Hirsch auf Afrikanisch/Europäische Vorzeichen/Fiktives Szenario
Kiluanji Kia Henda inszeniert Herrschaft nach kolonialen Vorbildern. Er exponiert den Symbolwert des Geweihs in Zitaten, die vielleicht gar nicht so ironisch sind. Den Popanz im Zentrum des Bildgeschehens schmälert kein Hinweis auf Potentaten-Schwäche. Der Akteur wirkt handlungsfähig. Jederzeit geht er als Repräsentant postkolonialer Machtverhältnisse durch. Seine europäischen Vorzeichen erscheinen zeitlos.
Aus der Ankündigung
Die Gruppenausstellung Masculinities: Liberation through Photography versammelt unter anderem Arbeiten von Laurie Anderson, Richard Avedon, Rotimi Fani-Kayode, Isaac Julien, Annette Messager sowie Wolfgang Tillmans und untersucht, auf welche Weise Männlichkeit seit den 1960er Jahren erlebt, performativ hergestellt und sozial konstruiert wird.
In einer Zeit, in der sich klassische Männlichkeitsbilder in der Krise befinden und Begriffe wie „toxische“ und „fragile“ Männlichkeit gesellschaftliche Diskurse prägen, bieten über 300 Arbeiten von 50 internationalen Künstler*innen, darunter Laurie Anderson, Richard Avedon, Rotimi Fani-Kayode, Peter Hujar, Isaac Julien, Annette Messager, Catherine Opie und Wolfgang Tillmans, ein Panorama der filmischen und fotografischen Auseinandersetzung mit dem Maskulinen in all seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität. Zentrale Bezugspunkte sind Themen wie Patriarchat, Macht, queere Identität, Race und Class, Sexualität sowie die weibliche Wahrnehmung von Männlichkeit, welche als ein weitgehend fließendes, performatives Identitätskonzept ins Blickfeld rückt.
Kuratiert von Alona Pardo, Barbican Centre
Schwabbel in Schwarzweiß/Harte Ansprache
John Coplans zeigt sich selbst ungeschützt in Studien seiner Hinfälligkeit. Er wiederholt Images der klassischen Schwarzweiß-Aktfotografie und konterkariert die Erwartungen mit der persönlichen Erschlaffung. Er dokumentiert das Altern als einen beleidigenden Prozess, zu dem einem etwas einfallen muss. Die Dokumentation des Verfalls wird zur Gegenkraft. Tatsächlich entspricht sie dem Senioren-Bodybuilding als Selbstbehauptungsakt. Man überwindet Barrieren der Alterssegregation, indem man sich konfrontiert und die Nachkommenden zwingt, sich auf der Linie einer hart ansprechenden Vorgabe zu verhalten.
Aneta Bartos präsentiert sich ihrem Vater, einem halbgreisen Ex-Bodybuilder mit rural-polnischer Prägung als erotisches Objekt. Sie deutet ein eigenes Begehren an. Sie skizziert eine Krise der Konstruktion Familie.
Im Ankündigungstext heißt es: „Aneta Bartos’ sexuell aufgeladene Serie Family Portrait (2015–18) (erschüttert) die traditionellen familiären Grenzen“. Die Künstlerin spiele mit (verbotenen und halb verbotenen) Blicken auf die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Die konkrete Szene verhandelt die Vertreibung aus dem Paradies auf dem Niveau einer Lingerie-Reklame.
Muskulärer Exzess - Female Masculinity
In den akuten Befunden erscheint sie transmaskulin und beinah wie eine Botschafterin fluider Genderbegriffe. In der Wahrheit ihrer Hochzeit kommt Lisa Lyon als Solistin ihrer selbst in die Arena. Der wie ein Wolf umherschweifende Highlight-Fotograf Robert Mapplethorpe erkennt Lyons Autonomie. Er überliefert sie monumental. Selbstverständlich erkennt man an den Konturkanten die Fragilität der Künstlerin. Denn nichts weniger ist LL. Die Kalifornierin aus Los Angeles verkörpert 1979 die erste Weltmeisterin der International Federation of Bodybuilding & Fitness (IFBB). Sie performt danach nie wieder diese Rolle. Vielmehr trainiert sie Kendo und Gewichtheben.
Ein kurzer Witz über den Unterschied zwischen Gewichtheben und Bodybuilding ging in meiner Kindheit so, dass mein Trainer mich von der Bank (Bankdrücken) wegzog mit der Hammerbegründung:
„Muskeln, mein Sohn, machen langsam.“
In den Verkehrsformen der Sechziger- und Siebzigerjahre war Bodybuilding queer markiert. In Ermangelung eigener Räume trainierten die Adepten des Muskelkults in der Sphäre der Leicht- und Schwerathletik. Im Gewichtheben dreht sich das Training wie im Ringen und Boxen um Explosivität, das heißt um Schnellkraft. Entscheidend ist das optimierte Verhältnis von Masse und Klasse. Mit Bankdrücken baut man Muskeln auf, die man beim Reißen und Stoßen nicht braucht. Man wird also (in der Logik des Gewichthebens) nur sinnlos schwerer … und, das war das große Narrativ, langsamer. In diesem langsam verbarg sich eine Verachtung für die queere Konkurrenz. Die alten Sporthasen, unglaubliche Nussknacker und zweifellos gar nicht so selten bi, bauten eine Mauer vor die Erkenntnis, dass wir alle (mehr oder weniger kryptisch) Bodybuilding betrieben. Dass jeder sich in Spiegeln betrachtete und im besten Fall von sich selbst entzückt war.
Es gab exzentrische Sportler. Sie wirkten nicht weniger queer als der bügelnde Wrestler in seiner Filmkonserve, die ich zu meiner Freude gesehen habe, aber leider im Augenblick nicht identifizieren kann. Ich gucke später noch mal, ob sich daraus was machen lässt.
Spott oder Würdigung
Arnold Schwarzenegger, porträtiert von Robert Mapplethorpe 1976. Die Darstellung kann sowohl als „Hommage als auch als Parodie“ gesehen werden, so Allen Ellenzweig in „The Homoerotic Photograph: Male Images from Durieu/Delacroix to Mapplethorpe“ 1992. Man beachte, wie solide Schwarzenegger sich am Ende seiner Karriere als Bodybuilder in eine gesellschaftsfähige Form gebracht hat. Der hypertrophe Aufbau wurde fast vollständig abgetragen. Schwarzenegger sieht so alert aus wie ein Schwimmweltmeister. Mapplethorpe inszeniert ihn wie einen Jahrmarkts- oder Varietékünstler des 19. Jahrhunderts. Der Vorhang geht auf und die Sensation erscheint. Meine Idee ist, dass Fotograf und Modell sehr unterschiedliche Vorstellungen von dem dokumentierten Augenblick hatten.