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Podiumsdiskussion

Erinnern | Erzählen | Identität

„Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet“, schrieb einst der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin in einem kleinen Denkbild, der „muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.“ Dieses Denkbild trägt den für das TEXTLAND. MADE IN GERMANY 2019 paradigmatischen Titel Ausgraben und Erinnern. Auch wir möchten uns im Rahmen der Podiumsdiskussion Erinnern | Erzählen | Identität dem Erinnern widmen und einmal nachgraben, wie sowohl persönliche als auch gesamtgesellschaftliche Erzählungen im polykulturellen und transnationalen Kontext denn nun eigentlich erinnert werden. Was erzählen wir eigentlich, wenn wir uns erinnern? Und woran und vor allem wie erinnern wir uns in unseren Erzählungen? Und was hat dies überhaupt mit Identität zu tun, sei es die eigene, die kollektive, die nationale oder gar internationale, die kulturelle oder letztlich sogar die geschichtliche?


Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion nähern sich diesen und anderen Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Schriftstellerin und Historikerin VERENA BOOS geht in ihren literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten dezidiert der Erinnerungsarbeit und Gedächtnisforschung nach: Indem sie geschichtliche Prozesse in eine narrative Form gießt, wandert sie zwischen den Welten der Literatur und der Geschichtswissenschaft von der prosaischen Aufarbeitung des Franco-Regimes bis hin zur Frage, was Heimat denn eigentlich heute noch bedeuten kann. Auch bei DORON RABINOVICI fließen die Grenzen zwischen Literatur und Geschichte ineinander. Ebenfalls als Wanderer von Tel Aviv nach Wien begeben wir uns mit ihm auf die Suche nach der Sprache der Geschichte und der Sprache der Anderen in der Geschichte und gedenken dabei der Opfer der Katastrophen der Vergangenheit. Von Griechenland nach Deutschland wanderte einst der Großvater der Soziologin IRINI SIOUTI und entzündete dadurch den Funken für eine intensive Beschäftigung mit der Biografieforschung und transnationaler Migration. Anhand der Narrative von Gastarbeiterkindern erinnert sie uns daran, wie Migration über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg Schwierigkeiten, aber auch die Chance zur Gestaltung neuer Identitäten birgt. Auf dem Weg zur literarischen Sprache von Sri Lanka nach Bayern beschreibt der Schriftsteller und Philosoph SENTHURAN VARATHARAJAH, wie die eigene Identität auch von den politischen und mentalen Abgründen der dominierenden Gesellschaft beeinflusst wird. Damit zeichnet er ein Bild, in dem die Marginalisierten – die Anderen der Geschichte – ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprachlich in Erinnerung bringen können.


In seinem Denkbild wiederum erinnert Walter Benjamin an die Notwendigkeit, sich beim Erzählen „nicht [zu] scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man [das] Erdreich umwühlt.“ Alle vier Teilnehmer der Podiumsdiskussion des diesjährigen TEXTLAND betreiben in ihren Schriften auf je eigene Weise diese Art der Erinnerungsarbeit: Sie graben in der Geschichte, ohne dabei zu vergessen, dass sie unmittelbar an die Erfahrungen unserer heutigen polykulturellen und transnationalen Welt gebunden ist.

Nassima Sahraoui, Frankfurt am Main, 21.7.2019


Die Podiumsdiskussion findet im Rahmen von Textland. Made in Germany am 14. September 2019, um 15 Uhr in der Evangelischen Akademie in Frankfurt am Main statt.