Die Mutter des Erzählers entspricht dem Ideal der jungen Frau im Tito-Sozialismus. Auf „vielen Fotos jener Zeit“ sieht man sie auf dem Hochseil einer perfekten Verkörperung. Sie ist das „Mädchen auf der Vespa: Ballonrock, Bobbysocken und Beehive-Frisur“.
Der Film zum jugoslawischen Lebensgefühl einer vom Mangel gebeutelten, zutiefst optimistischen Jeunesse dorée heißt „Ljubav i moda - Love and Fashion - Liebe und Mode“.
„Liebe und Mode“ ikonografiert in der Regie von Ljubomir Radičević, mit den Seichtmitteln der Musikkomödie die sozialistischen Zukunftserwartungen auf der europäischen Trümmerfolie.
Aleksandar Hemon, „Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen“, aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens, Claassen, 24,-
Der Autor erzählt seine Familiengeschichte. Ihre Anfänge erscheinen in der Retrospektive auch geografisch als Ausläufer. Sie beginnen in der Bukowina und in Galizien, nach heutigen Staatsbegriffen in der Ukraine. Die Hemons sind marginalisierte Untertanen auf vernachlässigten Feldern der Habsburger Monarchie. Als im frühen XX. Jahrhundert der kranke Mann am Bosporus einzuknicken droht, reißt der österreichische Kaiser Bosnien und Herzegowina an sich.
„1878 wurde Bosnien österreichisch-ungarischer Finanzverwaltung unterstellt (Kondominium), während es bis 1908 formell weiterhin dem Osmanischen Sultan unterstand. 1908 annektierte Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina.“ Wikipedia
Die Usurpator:innen schaffen facts on the ground, indem sie die Ärmsten von sonst wo in ihrer Hemisphäre umsiedeln und sie als Kolonist:innen in ein Konkurrenz- und Verdrängungsverhältnis zu der ursprünglichen Bevölkerung setzen. Hemons Urgroßvater wandert 1912 mit „einem oder zwei Bienenkörben und einem stählernen Pflug“ ein und siedelt nahe der serbisch dominierten Stadt Prnjavor im Nordwesten Bosniens.
Ich überspringe einige Stationen, um schnell wieder ins Kino zukommen. Der Vater des Erzählers sieht Živjeće ovaj narod, einen kroatischen Film aus dem Jahr 1947 nach einer Vorlage von Branko Ćopić.
Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Eigentlich sind es zwei Bücher in einem: MEINE ELTERN/ALLES NICHT DEIN EIGEN. Zwei Titelseiten, zwei Titelblätter; die Hälften sind Rücken an Rücken platziert, getrennt durch eine Reihe von Schwarz-Weiß-Fotos, die Hemons Familie zeigen.
Von den beiden Hälften ist "Meine Eltern" die geradlinigere. Es ist eine Sammlung von Essays über Hemons Mutter (Mama) und Vater (Tata), deren komfortable, bürgerliche Existenz in Sarajevo durch den Krieg zerstört wurde. Sie ließen sich in der kanadischen Stadt Hamilton, Ontario, nieder, wo sie intuitive Zugehörigkeit gegen eine hart erkämpfte Stabilität eintauschten. Wie Hemons Fiktion sind auch die Geschichten aus dem wirklichen Leben in "Meine Eltern" so fein konstruiert, dass ihr Gerüst unsichtbar ist. Es ist der vorsichtige und bewegende Versuch des Sohnes, dem Ganzen einen Sinn zu verleihen.
"Alles nicht dein Eigen" ist rauer und unkonventioneller, konzentriert sich mehr auf Hemon als auf seine Eltern, obwohl die beiden Hälften des Buches im Tandem arbeiten. Diese Hälfte ist eine Sammlung von kurzen Vignetten und Fragmenten: Einige lesen sich wie Notizen zu „Meine Eltern“, andere scheinen sie zu verändern oder gar zu unterlaufen. So ist er in einer Hälfte ein sanfter Junge, der streundende Tiere nach Hause bringt, um sie zu knuddeln, und in dieser ist er ein kleiner Sadist, der Fliegen die Beine ausreißt und sogar eine Katze tötet. Es ist eine Verzweiflung, die "Alles nicht dein Eigen" durchzieht, ein überwältigendes Gefühl der Sterblichkeit und der Verdacht, dass das Erzählen von Geschichten nie genug sein könnte.